Politik ohne Gesicht: Wie Parteien den digitalen Raum verspielen

Es ist September 2025, und die Lage ist ernüchternd. Wer heute durch die sozialen Netzwerke scrollt, sieht viel – nur nicht die Gesichter der Parteien, die eigentlich die Demokratie tragen sollten. Kommunalpolitiker, Landtagsabgeordnete, regionale Köpfe: fast unsichtbar. Webseiten, die aussehen wie aus den frühen 2000ern. Facebook-Seiten, auf denen der letzte Post zwei Jahre alt ist. Instagram-Accounts ohne Reichweite. TikTok: praktisch nicht vorhanden. Und wenn doch mal etwas hochgeladen wird, dann so hölzern, dass es nur die eigenen Mitglieder erreicht.

Dabei ist längst klar: Politik wird heute dort gemacht, wo Menschen ihre Zeit verbringen – auf TikTok, Instagram, YouTube, WhatsApp. 90 Prozent aller 14- bis 29-Jährigen nutzen soziale Medien täglich. TikTok hat in Deutschland mehr als 22 Millionen aktive Nutzer. Facebook und WhatsApp sind selbst bei den über 50-Jährigen längst wichtigste Informationsquellen. Wer da nicht sichtbar ist, existiert schlichtweg nicht.

Ich habe das selbst erlebt. Vor einigen Jahren bin ich bei der Linken eingetreten, damals kurz vor den Landtagswahlen in Hessen. Ich hatte Ideen, Konzepte, Vorschläge, wollte meine Erfahrung aus fast zwei Jahrzehnten Marketing einbringen. Ich hatte damals schon einen Facebook-Account mit mehreren tausend Followern und Reichweite, von der viele Kreisverbände nur träumen. Meine Botschaft war einfach: Geht in die digitalen Räume, bevor es andere tun. Aber ich lief gegen Wände. Entscheidungen trafen junge Funktionäre, die glaubten, durch Seminare alles besser zu wissen. Meine Vorschläge wurden abgebügelt. Stallgeruch war wichtiger als Expertise.

Und das Ergebnis kann man bis heute schwarz auf weiß nachprüfen: Als ich damals eingetreten bin, hatte die regionale Webseite der Partei rund 930 Follower. Heute, Jahre später, sind es ganze 1.021. Beim Landesverband war es ähnlich: vor sechs Jahren rund 6.500 Follower, heute 8.125. In sechs Jahren also nicht einmal 2.000 Menschen dazugewonnen – während rechte Accounts im selben Zeitraum Hunderttausende Reichweite aufgebaut haben. Das ist nicht Wachstum, das ist Stillstand.

Und selbst dort, wo es um Spitzenposten geht, sieht es kaum besser aus. Die heutige Vorsitzende der Landespartei hat gerade einmal rund 2.570 Freunde. Sie sitzt seit März im Bundestag, ist also keine Unbekannte mehr. Doch digital bleibt sie praktisch unsichtbar. Zum Vergleich: AfD-Politiker – und ja, da ist sicher auch viel Fake dabei – stehen mit ihren Profilen bei 35.000 Followern und mehr. Zehnfacher Abstand. Und genau dieser Abstand entscheidet, wer die Stimmung im Netz prägt.

Ich bin deshalb längst wieder ausgetreten. Keine Zeit und keine Lust, erst alte Netzwerke aufzubrechen, nur um Leuten zu helfen, die sowieso alles besser wissen wollen.

Natürlich, viele Kommunalpolitiker haben wenig Geld und kaum Zeit. Viele arbeiten ehrenamtlich, stemmen Politik neben Beruf und Familie. Aber das ändert nichts an der Realität: Wer nicht sichtbar ist, verliert. Der Raum bleibt nicht leer. Er wird besetzt – von denen, die lauter sind.

Die AfD hat es perfektioniert: kurze Videos, klare Botschaften, visuelle Dominanz. Ein Netz aus hunderten lokalen Accounts, das im Takt spielt. Das ist Taktik. Das ist Kalkül. Und es funktioniert. CDU und FDP ziehen da längst mit.

Und die Linke? Sie setzt auf ein paar wenige Namen. Heute sieht man Heidi Reichinneck – jung, rhetorisch scharf, präsent. Daneben Ramelow, die alte Garde. Gregor Gysi, Symbolfigur, respektiert, aber Vergangenheit. Das war’s. Mehr fällt selbst Kennern kaum ein.

Die Grünen? Habeck und Baerbock sind Geschichte. Heute sehe ich kein frisches Gesicht, das Reichweite bringt. Keine Stimme, die hängenbleibt. Eine Partei, die in den Medien und im Netz verblasst.

Das ist der fatale Fehler: Man glaubt, es reichen ein, zwei große Köpfe, um das Bild zu prägen. Aber Kommunal- und Landespolitik funktioniert anders. Dort zählt Nähe. Dort zählen Gesichter, die präsent sind, die lokale Themen aufgreifen, die digital sichtbar sind. Wenn diese Gesichter fehlen, verlieren ganze Parteien Anschluss – und damit Wahlen.

Mein eigenes Beispiel zeigt, dass es auch anders geht. Facebook hat meinen alten Account plattgemacht – wahrscheinlich, weil rechte Netzwerke ihn massenhaft gemeldet haben. Begründung gab es keine. Trotzdem habe ich in kürzester Zeit über 4.700 Follower neu aufgebaut. Reichweite: über vier Millionen in drei Monaten. Ohne bezahlte Werbung, nur mit Inhalten. Das beweist: Wer das Netz versteht, kann Menschen erreichen.

Und genau deshalb sage ich: Die Demokratie wird nicht sterben, weil Rechte Mehrheiten haben. Sie wird sterben, weil Rechte lauter sind. Weil sie die digitalen Räume füllen, während die demokratischen Parteien ihre Chance verschlafen.

Wenn Mitte, Mitte-Links und Links jetzt nicht endlich den Arsch hochkriegen, werden die nächsten Wahlen ein bitteres Bild zeichnen. Dann ist der Zug abgefahren, dann liegt das Kind im Brunnen. Hinterher jammern hilft niemandem. Nur wer jetzt handelt, hat noch eine Chance.

DemokratieVerteidigen #DigitaleRealität #AfDStoppen #ParteienImNetz #ReichweiteIstMacht

Quellen

  • ARD/ZDF-Medienstudie 2024: 60 % der Deutschen ab 14 Jahren nutzen Social Media mindestens wöchentlich, was einem Anstieg von 8 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. Media Perspektiven
  • Dieselbe Studie sagt: Besonders stark wächst die Nutzung bei den 50- bis 69-Jährigen. Media Perspektiven
  • ARD/ZDF-Onlinestudie gibt an, dass 95 % der Bevölkerung ab 14 Jahren das Internet nutzen, knapp 67 Millionen Menschen. Bundesverband Hochschulkommunikation
  • Außerdem: 80 % der Menschen über 14 nutzen das Internet täglich. Bundesverband Hochschulkommunikation
  • Neben Social Media beträgt die tägliche Nutzung von Videoinhalten auf Plattformen wie Instagram, TikTok, Snapchat oder ähnlichen etwa 23 % bei Menschen über 14 Jahren. ARD MEDIA
  • Plattformnutzung: Instagram bleibt Spitzenreiter, vor Facebook; TikTok gewinnt an Bedeutung.

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Von Karlheinz Skorwider

Karlheinz Skorwider – CEO, Autor & Redakteur Unabhängiger Medien- und Werbeberater mit über 23 Jahren Erfahrung. Beobachter politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen, mit klarem Blick auf Sprache, Machtstrukturen und öffentliche Debatten. Vater von drei Kindern, schreibt an dystopischen sowie gesellschaftskritischen Romanen und arbeitet an Projekten politischer Aufklärung. Bei QuelleX verbindet er kritische Analyse mit erzählerischer Schärfe – stets auf der Suche nach Klarheit, Haltung und Perspektive jenseits der Schlagzeilen.

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