Erinnert ihr euch noch an die Merkel-Union? Diese Partei, die sich selbst in der Mitte verortet hat, die Flüchtlingskrise als humanitäre Aufgabe verkaufte, die mit stoischer Ruhe regierte und die rechte Kante der Union klein hielt?

Diese CDU existiert nicht mehr. Heute, im Jahr 2025, steht eine Union im Kanzleramt, die klingt wie ein Best-Of rechter Parolen der letzten zehn Jahre. Und an der Spitze sitzt Friedrich Merz. Was 2018 noch als Flügelgeheul am Rand belächelt wurde, ist heute Regierungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland.

Die Geschichte beginnt im April 2018, als die WerteUnion ihr „Konservatives Manifest“ verabschiedete. Eine kleine Gruppierung innerhalb der CDU/CSU, gegründet von Alexander Mitsch und flankiert von Hans-Georg Maaßen und Max Otte, machte damals offen Front gegen Merkel. Sie erklärten die Kanzlerin für politisch erledigt, warfen ihr eine „unkontrollierte Masseneinwanderung“ vor und forderten eine personelle Neuaufstellung der Union.

Was in diesem Manifest stand, las sich wie ein Katalog aus dem AfD-Ideenlager: die doppelte Staatsbürgerschaft müsse abgeschafft werden, Abschiebungen müssten schneller und härter erfolgen, Zuwanderer hätten sich der Leitkultur anzupassen, am besten nach dem Modell Vater, Mutter, Kinder. Auch die Wehrpflicht sollte wieder eingeführt werden, die Bundeswehr müsse mehr Geld erhalten, am liebsten zwei Prozent des BIP. Wirtschaftlich wollte man Steuern senken, Sozialleistungen kürzen, den Mindestlohn streichen. Und in der Klimafrage fabulierte man davon, dass weniger als ein Prozent des Klimawandels menschengemacht sei.

Was damals wie ein groteskes Sammelsurium wirkte, liest sich heute wie ein Regierungsfahrplan.

Parallel dazu wirkte die MIT, die Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Keine kleine Abspaltung, sondern eine der größten Vereinigungen der CDU. Ihre Agenda seit Jahrzehnten: weniger Staat, weniger Steuern, weniger Sozialleistungen, weniger Arbeitnehmerrechte.

Sie versteht sich als Stimme des Mittelstands, ist aber das Sprachrohr der wirtschaftsliberalen Lobby innerhalb der Union. Wenn die WerteUnion den Kulturkampf nach rechts trieb, war die MIT das ökonomische Rückgrat, das nach unten austeilte. Vorsitzende wie Carsten Linnemann – heute Generalsekretär – und natürlich Friedrich Merz selbst prägten diese Linie.

Und mittendrin Jens Spahn. Offiziell nie Mitglied der WerteUnion, aber immer nah genug dran, um als ihr Übersetzer zu wirken. Spahn kandidierte 2018 gegen Merkel um den Parteivorsitz, ohne jede Chance, aber mit der klaren Botschaft, er sei die konservative Alternative.

Er schickte Grußworte, nannte die WerteUnion die „Anwälte der Unterschiede“ und griff ihren Tonfall auf. Gleichzeitig war er eng mit der MIT verflochten, über Immobiliengeschäfte, Lobbykontakte, wirtschaftsliberale Netzwerke.

Spahn war das Scharnier: Er übersetzte das Radikale der WerteUnion in bürgerliche CDU-Sprache und machte es salonfähig.

Heute, 2025, hat die CDU unter Merz nicht nur diesen Kurs übernommen, sie hat ihn ins Kanzleramt getragen. Abschiebungen, Staatsbürgerschaftsdebatten, Leitkulturparolen – das ist nicht mehr der Rand, das ist Regierungslinie.

Merz sagt offen, Deutschland könne sich den Sozialstaat in dieser Form nicht mehr leisten. Das war einst MIT-Forderung, heute Kanzlerpolitik. Die Bundeswehr erhält Milliarden, das Zwei-Prozent-Ziel ist Gesetz, die Wehrpflicht liegt wieder auf dem Tisch.

Familienpolitik kreist um das klassische Modell, Diversität wird als „Gender-Wahn“ verspottet. Die Klimapolitik wird gebremst, Gelder verschoben, der Wandel kleingeredet.

Es ist kein Zufall, dass die Sprache der WerteUnion heute die Sprache des Kanzlers ist. „Leitkultur“, „Patriotismus“, „Leistungsträger“, „Gender-Ideologie“ – Begriffe, die 2018 noch nach rechter Flügelgruppe klangen, werden 2025 in Regierungserklärungen gesprochen.

Maaßen steht heute am Rand, Mitsch ist vergessen, Otte bei der AfD. Aber ihre Parolen leben weiter, weil Jens Spahn sie in die CDU getragen und Merz sie in den Kanzleramtsbetrieb gegossen hat.

Das Fazit ist bitter: Die WerteUnion hat die CDU nicht gespalten, sondern transformiert. Die MIT hat den ökonomischen Unterbau geliefert. Spahn hat die Brücke geschlagen. Und Merz hat das Ganze vollendet.

Was 2018 noch als randständiges Manifest kursierte, regiert heute Deutschland. Die Merkel-CDU, die sich einmal als Partei der Mitte verstand, existiert nicht mehr.

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Von Christina Christiansen

Christina Christiansen arbeitet als freie Autorin und politische Kommentatorin mit Schwerpunkt auf Demokratie, Machtstrukturen und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland. Mit einem Hintergrund in der Erwachsenenbildung und einer langjährigen Erfahrung in der Analyse politischer Prozesse verbindet sie journalistische Klarheit mit einer pointierten Haltung. Ihre Texte sind geprägt von kritischer Recherche, einer klaren Sprache und dem Anspruch, komplexe Zusammenhänge verständlich und nahbar zu machen. Im Zentrum steht für sie die Aufklärung über autoritäre Tendenzen, Korruption und den Schutz demokratischer Werte. Christiansen veröffentlicht Bücher, Essays und Kommentare zu aktuellen politischen Themen und baut parallel eine wachsende Community in sozialen Netzwerken auf, in der sie für Transparenz, Diskurs und gesellschaftliche Verantwortung eintritt.