Demografie: Das absehbare Desaster
 
Seit Jahrzehnten liegen die Daten auf dem Tisch. Jede Bundesregierung konnte exakt sehen, wann die Babyboomer in Rente gehen, wie viele Kinder pro Jahr geboren werden, wann diese Kinder in die Schule kommen, wann sie ausgebildet werden und wann sie in den Arbeitsmarkt eintreten. Das war nie ein Geheimnis, sondern Statistik. Und trotzdem wurde so getan, als käme der demographische Wandel überraschend über dieses Land.
 
Die Zahlen sind eindeutig:
Schon seit den 1970er Jahren liegt die Geburtenrate in Deutschland konstant unter dem Bestandserhaltungswert von 2,1 Kindern pro Frau. Heute dümpelt sie bei 1,38. Im Jahr 2022 wurden nur noch 693.000 Kinder geboren – fast 70.000 weniger als im Vorjahr. Das ist der niedrigste Wert seit einem Jahrzehnt. In Ostdeutschland ist der Rückgang besonders dramatisch. Und ohne Zuwanderung würde die deutsche Bevölkerung längst massiv schrumpfen.
 
Das Problem ist also nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Es war 50 Jahre lang absehbar. Und dennoch haben die politischen Mehrheiten, allen voran CDU-geführte Regierungen, den Umbau des Sozial- und Rentensystems verschleppt. Statt rechtzeitig gegenzusteuern, wurde über Jahrzehnte an einem „Generationenvertrag“ festgehalten, der längst brüchig war.
 
Heute beträgt die sogenannte Altenquote – also das Verhältnis der über 65-Jährigen zu den Erwerbstätigen – bereits 34 Prozent. Bis 2050 wird sie auf über 50 Prozent steigen. Das bedeutet: Zwei Menschen im Erwerbsalter müssen dann für einen Rentner aufkommen. Jeder Ökonom, jedes Ministerium konnte diese Entwicklung seit Jahrzehnten berechnen. Doch anstatt zu investieren, wurde blockiert.
Was hätte Politik tun können? Frühzeitige Investitionen in Kinderbetreuung und Bildung. Ein echtes Familienförderprogramm, das nicht nur Elterngeld für wenige Jahre verteilt, sondern Strukturen schafft, die Eltern ermöglichen, Beruf und Familie dauerhaft zu vereinen. Mehr Ganztagsschulen, mehr Kitas, bessere Bezahlung für Erzieherinnen. Aber was ist passiert? Kita-Ausbau kam spät und halbherzig, die Ganztagsschule ist immer noch Flickwerk, und in der Familienpolitik dominieren bis heute Lippenbekenntnisse.
 
Auch beim Rentensystem selbst gab es nur kurzfristige Flickschusterei. Mal wurde das Rentenalter erhöht, mal wurden Zuschüsse aus Steuergeldern nachgeschossen. Eine ernsthafte, generationengerechte Reform, die Selbstständige, Beamte und Politiker in eine einheitliche Rentenkasse einbezieht, blieb aus. Genau das fordern Experten seit Jahrzehnten – doch in Berlin wollte niemand den Konflikt mit mächtigen Interessengruppen riskieren.
Stattdessen erleben wir heute die Schamlosigkeit der Schuldumkehr: Ökonomen und Politiker erklären die Alten zur Belastung und fordern, sie müssten „stärker in die Pflicht genommen werden“. Manche schlagen sogar ein „verpflichtendes soziales Jahr für Rentner“ vor. Das ist grotesk. Wer 40 oder 45 Jahre gearbeitet, eingezahlt und geschuftet hat, hat jedes Recht, den Ruhestand zu genießen. Sich mit 60 oder 65 endlich aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen, ist kein Verbrechen, sondern verdienter Lohn. Arschlecken, mein Freund – niemand, der sein Leben lang malocht hat, ist verantwortlich für das politische Versagen.
 
Die Wahrheit ist:
Die Alten sind nicht das Problem. Das Problem ist eine Politik, die seit Jahrzehnten sehenden Auges in die Krise läuft, weil sie sich nicht traut, die wirklich großen Fragen anzupacken. Das Rentenloch kommt nicht überraschend, es ist das Ergebnis von 50, 60 Jahren Verdrängung.
Statt jetzt die Generationen gegeneinander auszuspielen, braucht es einen klaren Schnitt: eine ehrliche Reform des Rentensystems, massive Investitionen in Familien und Bildung, und eine Einwanderungspolitik, die Integration nicht dem Zufall überlässt, sondern planvoll gestaltet. Alles andere ist Heuchelei.
Wer heute den Finger auf die Babyboomer richtet, lenkt nur davon ab, dass die Schuld bei der Politik liegt – und dort seit Jahrzehnten liegt.
 

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Von Karlheinz Skorwider

Karlheinz Skorwider – CEO, Autor & Redakteur Unabhängiger Medien- und Werbeberater mit über 23 Jahren Erfahrung. Beobachter politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen, mit klarem Blick auf Sprache, Machtstrukturen und öffentliche Debatten. Vater von drei Kindern, schreibt an dystopischen sowie gesellschaftskritischen Romanen und arbeitet an Projekten politischer Aufklärung. Bei QuelleX verbindet er kritische Analyse mit erzählerischer Schärfe – stets auf der Suche nach Klarheit, Haltung und Perspektive jenseits der Schlagzeilen.